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06. Januar 2010

Wie Web 2.0 die Wirtschaft verändert (Teil 4 von 4) – Methode zur Abschätzung des Einflusses von Web 2.0 auf Unternehmen und Organisationen

Mit der Analyse von Wertschöpfungsketten und Transaktionskosten, insbesondere Informationskosten, haben wir wesentliche Faktoren zur Abschätzung des Einflusses von Web 2.0 kennen gelernt. In diesem Beitrag werde ich auf zwei weitere wichtige Aspekte eingehen: das „Involvement“ sowie auf die „Anzahl der Internet/Web 2.0 Nutzer im Unternehmen“. Im Anschluss werden die Erkenntnisse auf ein einfaches Vorgehen verdichtet, mit dem jeder den Einfluss des Internets und von Web 2.0 auf das eigene Unternehmen einschätzen kann.   

Involvement

Wollen wir beurteilen, wie hoch das generelle Interesse Ihrer Stakeholder ist, Ihr Produkt, Ihre Marke oder Ihre Organisation im Web 2.0 zu diskutieren, können wir den Begriff des „Involvements“ (Krugman 1965) heranziehen.

 „Involvement“ bezeichnet die Ich-Beteiligung eines Kunden gegenüber einem Produkt, einer Marke etc., d. h. den subjektiven Wert und Nutzen für den Kunden.

Der Grad des Involvements bestimmt die Aufmerksamkeit und den Grad an (anhaltender) Emotionalität, den ein Kunde einem Produkt oder einer Marke entgegenbringt. Dabei hat jeder Kunde einen anderen Grad des Involvements – abhängig von dessen Zielen, Werten, Emotionen, Erfahrungen und von seinem aktuellen „Bedarf“ an dem Produkt. Involvement kann zudem eher rational oder eher emotional sein, was zu differenzierbaren Produkt-/Markenkategorien führt (vgl. u. a. Ratchford 1987; Claeys 1995).

Für eine erste Einschätzung gilt die Hypothese

 Je höher das Involvement eines Produktes, einer Marke etc., desto höher das Bedürfnis, sich über das Produkt, die Marke etc. (im Web 2.0) auszutauschen.

Für diesen Aspekt genügt die pragmatische Unterscheidung nach High-, Medium- und Low-Involvement-Produkten.

  • High-Involvement-Produkte sind entweder sehr teuer, haben eine lange Nutzungsdauer oder sind Produkte mit denen sich der Konsument stark identifiziert – etwa Statussymbole, Luxus- und Markenprodukte.
    Als Beispiele seien genannt ein Haus, ein Neuwagen, Finanzprodukte, hochwertige Möbel, exklusive und teure Marken-Kleidung, teure (Maß-)Schuhe, hochwertige Accessoires, hochwertige Elektronikartikel wie digitale Foto- und Filmkameras, Mobiltelefone, Flachbildfernseher, Hifi-Anlagen etc., höherwertige Kult- und Liebhaberobjekte oder operative Eingriffe der therapeutischen, präventiven oder ästhetischen Medizin. Für den Bereich B2B seien exemplarisch Industrieanlagen/-maschinen genannt.
  •  Low-Involvement-Produkte hingegen werden vom Kunden nicht als wichtig empfunden und er setzt sich weniger mit ihnen auseinander. Sie sind nicht mit dem Selbstvertrauen und der Selbsteinschätzung des Kunden verknüpft und er sieht die Produkte als austauschbar an. Entsprechend kurz und ohne tiefere Reflexion verläuft der Kaufprozess.
    Beispiele sind Verbrauchsgüter wie Lebensmittel und Massenprodukte, bei denen keine großen Qualitätsunterschiede feststellbar sind – etwa Milch, Zucker, Obst und Gemüse, Wasch- und Reinigungsmittel. Für den Bereich B2B seien exemplarisch Industriechemikalien genannt.
  •  Medium-Involvement-Produkte haben einen mittleren Grad des Involvements. Zwar definiert der Kunde sich nicht über die Produkte oder Marken und doch bestätigen diese sein Selbstverständnis. Der Grad der Auseinandersetzung mit dem Produkt ist von mittelmäßiger Intensität. Die Nutzungsdauer der Produkte kann erheblich schwanken. Der Preis muss nicht sehr hoch sein, liegt aber in der Regel höher als die Preise vergleichbarer Produkte.
    Beispiele sind zahlreiche Markenprodukte des täglichen Bedarfs (z. B. teure Parfums), hochwertiges Werkzeug, Elektronikartikel höherer Preislage (z. B. qualitativ gehobene Computer, Drucker, MP3-Player), hochwertige Weine, teure Zigarren etc..

Entsprechend dieser Gliederung lässt sich bei einem Produkt mit hohem Involvement erwarten, dass mehr und differenziertere Rezensionen, Anwenderberichte, Kritiken und Fanbeiträge im Internet veröffentlicht werden, als bei einem Produkt mit geringem Involvement. Die Konsequenz: Je höher das Involvement, desto größer die Bedeutung des Internets und Web 2.0 für die Wahrnehmungssteuerung von Produkten, Marken etc.. Die „Kommunikationshoheit“ geht vom Unternehmen – soweit es diese je hatte – auf Kunden, Nutzer und Produktinteressenten und Kritiker über.

Natürlich spielt für das Ausmaß, in dem dies geschieht, die Internetaffinität Ihrer Kunden und Stakeholder eine große Rolle. Da mittlerweile mehr als drei Viertel aller Berufstätigen und weit mehr als die Hälfte aller Bundesbürger Zugang zum Internet hat, kann man näherungsweise davon ausgehen, dass alle Kundengruppen und Stakeholder am Internet und Web 2.0 partizipieren. Selbst die bisher weniger vertretene Gruppe der 50-64 jährigen holt deutlich auf (Institut für Demoskopie Allensbach 2009). Allein die Rentner bleiben weiterhin unterdurchschnittlich im Internet vertreten.

Dennoch wird man sich neben dem Grad des Involvements im zweiten Schritt auch die Struktur seiner Kunden und Stakeholder und deren Internetnutzung und aktive Teilnahme am Web 2.0 näher anschauen müssen, um zu einer differenzierten Einschätzung zu gelangen.

Anzahl Internet-/Web 2.0-Nutzer im Unternehmen

Grundsätzlich lässt sich formulieren:

Je mehr Ihrer Mitarbeiter beruflich oder privat Zugang zum Internet haben, desto mehr nehmen aktiv am Dialog auch über Ihr Unternehmen teil und unterwandern damit die Rolle der „offiziellen“ Unternehmenskommunikation.

Schon vor der Zeit des Web 2.0 haben Menschen sich in ihrem Privatleben und in Fachkreisen über das Unternehmen, Marken und Produkte ausgetauscht und dabei „unautorisierte“ Aussagen getroffen und tiefere Einblicke gewährt. Mit dem Web 2.0 sind solche Äußerungen nun nicht mehr auf einen kleinen Kreis beschränkt, sondern allgemein im Internet öffentlich und jederzeit verfügbar. Ihre Mitarbeiter sind über das Internet direkt miteinander verbunden, ebenso, wie mit Kritikern, Mitarbeitern der Konkurrenz, Journalisten etc..

Jedermann kann Einzelaussagen verschiedener Mitarbeiter in unterschiedlichen Kontexten leicht abrufen und zu einem neuen Gesamtbild Ihres Unternehmens zusammenfügen. Unternehmensgrenzen und offizielle Freigaben der Unternehmenskommunikation werden auf diese Weise ausgehebelt.

In welchem Ausmaß dies geschieht, wird vor allem bestimmt durch:

  1.  den Grad der Internetisierung, d. h. dem Anteil der Mitarbeiter mit Internetzugang (beruflich oder privat) bezogen auf die Gesamtzahl der Mitarbeiter
  2. die Betriebsgröße.

Um uns diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, nehmen wir als erste Näherung die 1-9-90-Regel zu Hilfe (Nielson 2006), nach der bestenfalls 1 Prozent der Internetnutzer besonders aktiv am Web 2.0 teilnehmen, 9 Prozent der Nutzer nur gelegentlich Inhalte im Web produzieren und die übrigen 90 Prozent eher Leser bzw. passive Nutzer sind. Diese grobe Verteilung lässt sich auch heute für Deutschland belegen (vgl. z. B. Verbraucheranalyse 2009).

In Deutschland haben etwa 75 Prozent der Berufstätigen Zugang zum Internet – nahezu alle davon privat und etwa die Hälfte zudem beruflich.

Daraus lässt sich folgende Beispielrechnung ableiten:

Betriebsgröße   
Internetisierungsgrad
Anzahl „Onliner“   
Aktive Web 2.0 Nutzer
           100
    75 Prozent

           75

             8,      1 intensiv
        1.000
    75 Prozent
         750
           75,      8 intensiv
      10.000
    75 Prozent
       7.500
         750,    75 intensiv
    100.000
    75 Prozent
     75.000
      7.500,  750 intensiv

Je größer der Betrieb, desto weniger wird es möglich, die Außenwahrnehmung des Unternehmens und von Produkten allein durch die offizielle Unternehmenskommunikation zu steuern, da zu viele interne Wissensträger Einzelinformationen und Meinungen über das Unternehmen, ihren Arbeitsplatz sowie Produkte mehr oder minder öffentlich machen.

Die Beispielrechnung verdeutlicht dabei nur das Prinzip. Das Ausmaß, das heißt der Anteil der im Web 2.0 aktiven Mitarbeiter, kann je nach Branche erheblich schwanken: höchst internetaffin sind beispielsweise die Branchen EDV/Multimedia, Personal- und Unternehmensberatung eher weniger internetaffin zeigen sich z. B. die Branchen Transport und Logistik, Reinigung/Entsorgung sowie die Immobilienwirtschaft. (vgl. Typologie der Wünsche 2010 II).

Neben der externen Kommunikationswirkung beeinflusst Web 2.0 auch die Erwartungshaltung der Mitarbeiter im Unternehmen: Je aktive ihrer Mitarbeiter am Web 2.0 partizipieren, desto mehr erwarten sie auch im Unternehmen einerseits eine vergleichbar funktionale IT-Infrastruktur und stellen andererseits höhere Anforderungen an die Führungskräfte, von denen sie flachere Hierarchien und einen kollaborativen, authentischen Führungsstil erwarten.

Einige Personalchefs halten bereits heute ein interaktives Intranet mit direkten Kommunikationswegen zu Kollegen und Top-Führungskräften für einen entscheidenden Faktor bei der Gewinnung und Retention von High-Potentials.

Zusammenfassung: Den Einfluss des Internets und Web 2.0 auf das eigene Unternehmen bestimmen

Wir haben in dieser Serie insgesamt fünf Kernfaktoren betrachtet, die den Einfluss des Internets und von Web 2.0 auf die Wirtschaft im Allgemeinen und einzelne Unternehmen im Speziellen bestimmen:

Fünf Kernfaktoren nach Ullrich

 © Webosoph.de | Thomas W. Ullrich, Düsseldorf, 2009

Um also die bedeutendsten Einflüsse durch das Internet und Web 2.0 auf das eigene Unternehmen abzuschätzen, müssen Sie sich im Wesentlichen fünf zentralen Fragen widmen:

(1)   Sind Ihre Produkte digital/digitalisierbar?

(2)   Welcher Art von (Informations-)Gütern ist Ihr Produkt am ehesten zuzuordnen?

(3)   Welchen Grad von Involvement hat Ihre Marke bzw. Ihr Produkt?

(4)   Wie viele Ihrer Mitarbeiter haben – beruflich und/oder privat – Zugang zum Internet?

(5)   In wie weit haben Sie Ihre internen Prozesse im Unternehmen digitalisiert?

Die folgende Übersicht stellt ordnet das Ausmaß der Veränderungen (sehr hoch, hoch, gering)  den Ausprägungen des jeweiligen Kernfaktors zu.

5 Kernfaktoren nach Ullrich
Tabelle 1: Grad der Veränderungen durch Internet/Web 2.0 je nach Ausprägung der Kernfaktoren

 

Die fünf Kernfaktoren lassen sich dabei drei Themenfeldern zuordnen: (1) Geschäftsmodell, (2) Marketing-Kommunikation und (3) Interne Prozesse und Kultur.

Zwei der Kernfaktoren (b, d) ermöglichen Aussagen zu jeweils zwei der Themenfelder, was die überlappende Darstellung der Tabelle bedingt.

In der folgenden Übersicht werden den Kernfaktoren exemplarisch ausgewählte Aspekte zugeordnet, zu denen sich u. a. Aussagen/Prognosen ableiten lassen.
5 Kernfaktorten nach Ullrich
Tabelle 2: Exemplarische Zuordnung von Bereichen, zu denen die Betrachtung der Kernfaktoren Aussagen erlaubt

Die genaueren Interpretationen wurden im Laufe der Serie diskutiert. Insgesamt ergibt sich aus diesen fünf Kernfaktoren und ihren Ausprägungen eine enorme Vielzahl möglicher Kombinationen, die zahlreiche der realen Situationen von Unternehmen abdecken werden. Zur Vereinfachung der individuellen Analyse für Ihr Unternehmen habe ich ein Online-Tool entwickelt: den „Web Influence Analyzer 1.0“. Mit ihm können Sie die spezifische Situation Ihres Unternehmens anhand der fünf Kernfaktoren analysieren und erhalten so binnen weniger Sekunden wertvolle Hinweise über mögliche Veränderungen, Chancen und Risiken durch das Internet und Web 2.0 für Ihr Unternehmen. Das Tool finden Sie hier.

Grenzen des Modells

Mit dem in dieser Serie abgeleiteten Modell der fünf Kernfaktoren lassen sich zahlreiche der infolge des Internets und des Web 2.0 beobachtbaren Phänomene beschreiben. Hintergründe und Kausalitäten werden deutlich und Prognosen für Branchen und einzelne Unternehmen möglich. Damit hat das Modell einen praktischen Nutzwert für Unternehmer, Berater und (Wirtschafts)Politiker und in begrenztem Umfang auch für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

Gleichzeitig befindet sich das Modell auf einer qualitativ-kausalen Darstellung der Einzelfaktoren und damit auf einer Ebene der Plausibilität. Neben der Bewährung in der Praxis und der Weiterentwicklung im Diskurs, zu der diese Art der Veröffentlichung ausdrücklich aufruft, ist eine Quantifizierung der Faktoren sowie ihrer Interdependenz mittel- bis langfristig wünschenswert.

Die von mir der Eingängigkeit wegen gewählten Beschreibungen und Beispiele dieser Serie übergewichten die Perspektive der Business-to-Consumer Geschäfte (B2C), die leider auch die übrige Diskussion zum Thema Internet und Web 2.0 dominiert. Die fünf Kernfaktoren gelten jedoch ebenso für das Feld der Business-to-Business Geschäfte (B2B). Eine entsprechende Aufarbeitung der B2B-Cases ist daher – an anderer Stelle – wünschenswert.

Ich danke den geneigten Lesern dieser Serie und freue mich weiterhin über konstruktives Feedback und die praktische Anwendung der hier vorgestellten Ansätze.

Literaturhinweise

Claeys, Christel; Swinnen, An; Vanden Abeele, Piet (1995): Consumers’ means-end chains for „think“ and „feel“ products. International Journal of Research in Marketing 12 (3), S. 193-208

Institut für Demoskopie Allensbach (2009): Acta 2009 – Zentrale Trends der Internetnutzung in den Bereichen Information, Kommunikation und E-Commerce.
URL: http://www.acta-online.de/praesentationen/acta_2009/acta_2009_Trends_Internetnutzung.pdf  [Stand: 28-DEZ-2009]

Krugman Herbert E. (1965): The Impact of Television Advertising – Learning without Involvement. Public Opinion Quarterly, 29 (3), S. 349-356.

Nielsen, Jakob (2006): Participation Inequality. Encouraging More Users to Contribute. Jakob Nielsen’s Alertbox, October 9, 2006.
URL: http://www.useit.com/alertbox/participation_inequality.html  [Stand: 23-DEZ-2009]

Ratchford, Brian T. (1987): New insights about the FCB grid. Journal of Advertising Research 27 (4), S. 24-38 

 





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