Lange Zeit war die Welt der Unternehmenskommunikation weitgehend geordnet und ließ sich gut managen. Es gab
- Werbung, die man kaufen (schalten) konnte – etwa TV-Spots, Anzeigen, Radio-Spots,
Kino-Werbung, Poster, Prospekte, Veranstaltungen, irgendwann auch Internet-
Werbebanner etc.
und - Massenmedien in überschaubarer Anzahl, mit etwa 70.000 redaktionell arbeitenden
Journalisten, die man mit PR und von Zeit zu Zeit auch mit Rechtsanwälten mehr oder
minder erfolgreich bearbeitete.
Das Internet, in seiner Mitmach-Variante des „Web 2.0“, hat diese Ruhe gestört. Es bedingt neue Phänomene, verändert die Art und Weise des Informations- und Kommunikationsverhaltens der Gesellschaft und stürzt – langsam aber merklich – das Paradigma der Massenkommunikation und stellt die damit verbundenen Theorien, Konzepte und Methoden zumindest in Frage.
Wenn die Gesellschaft mit etwas so tief greifend Neuem konfrontiert wird, durchläuft sie einen (wissenschaftlichen) Erkenntnisprozess, der sich vereinfacht wie folgt skizzieren lässt:
Der (wissenschaftliche) Erkenntnisprozess
Zunächst treten Phänomene (gr. φαινόμενο {fänόmeno} – Erscheinung) auf, die im Widerspruch zum Gewohnten stehen und für die man keine Erklärung hat. Kausalzusammenhänge, die man für gesichert hielt, gelten scheinbar nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr. Das löst Faszination, Irritation und teilweise auch Angst aus.
Nachdem man erste Erfahrungen mit den Phänomenen gesammelt hat, gibt man ihnen Namen und bildet Hypothesen (gr. ὑπόθεσις {hypothesis} – Unterstellung), d. h. verallgemeinerte Beschreibungen der mit den Phänomenen gesammelten Erfahrungen – oft in „Wenn-dann-Schlüssen“.
Sind hinreichend viele Hypothesen gebildet, werden sie zu Theorien (gr. θεωρία {theoría} – Anschauung, Überlegung, Einsicht) verdichtet. Diese wollen nicht mehr nur beschreiben, sondern erklären und Vorhersagen treffen. Erweisen sich die Vorhersagen einer Theorie hinreichend oft als zutreffend, erlangt sie praktisch den Status eines empirischen „Naturgesetzes“.
Nutzt man die Theorie, um die Frage „Was muss ich unter gegebenen Umständen unternehmen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“ zu beantworten, so nennt man die Antwort, d. h. die Ziel-Mittel-Beziehung, ein Konzept (lat. conceptus – Vorstellung, klar umrissener Plan).
Entwickelt man aus dem Konzept ein klares schrittweises Vorgehen zur Lösung spezifischer praktischer Probleme, spricht man von einer Methode (gr. μέθοδος {méthodos} – der Weg zu etwas).
Unternehmenskommunikation und Web 2.0 – Status des Erkenntnisprozesses
Meiner Beobachtung nach, befinden wir uns in Deutschland im Wesentlichen zwischen „Stufe 1 – Phänomenologie“ und „Stufe 2 – Hypothesen“.
Kommunikatoren in Unternehmen, Agenturen, (Fach-)Medien und (Kommunikations-)Wissenschaftler entdecken einzelne Phänomene wie Blogs, online Social Networks und Twitter und subsumieren dieser unter dem Stichwort Web 2.0.
Es werden Hypothesen gebildet, warum es Blogs etc. gibt, wer sie nutzt und welche Konsequenzen dies für die Kommunikation haben könnte. An (teilweise widersprüchlichen) Daten fehlt es dabei nicht.
Doch eine Theorie, die das Phänomen Web 2.0 erklärt und es ermöglicht Vorhersagen darüber zu treffen, was im Web 2.0 unter welchen Bedingungen in welchem Ausmaß funktioniert oder nicht, scheint nicht existent oder entpuppt sich schnell als unausgereift.
Konsequenzen für die Unternehmenskommunikation
Warum ist es wichtig, sich diesen Status des Erkenntnisprozesses zu vergegenwärtigen? Die Einordnung hilft, zu verstehen, das und warum sich die Mehrheit der vielfach gestreuten Hypothesen in generischen Behauptungen erschöpfen, die einerseits aus der Faszination für das Neue und andererseits aus der Angst einen Trend zu verpassen, getrieben sind.
Medien, Agenturen und fortschrittliche Führungskräfte fordern oft, Unternehmen müssten ins Web 2.0 – einen Blog starten, twittern und intern mindestens ein Wiki einrichten.
Doch warum? Und welche Wirkungen erzielen wir damit mittel- und langfristig? Was passt zu uns als Unternehmen und zu unserer Unternehmenskultur? Welche der technischen Trends erweisen sich als längerfristig tragend und welche nur als Hype? Wie verändert der Wandel von der „Massenkommunikation“ zur „Kommunikation der Massen“ die Herausforderungen und die Rolle der Unternehmenskommunikation? Diese und andere sind die richtigen, die relevanten Fragen. Doch darauf gibt es heute allzu oft nur unzureichende Antworten.
Kann sich deshalb ein Unternehmen dem Web 2.0 entziehen? Von wenigen Ausnahmen abgesehen gilt ein klares „Nein“. Dennoch muss man sich gewahr werden, dass man am Beginn eines Paradigmenwechsels steht, über dessen Entwicklung und Ausgang vielfach nur spekuliert werden kann.
Dies zwingt zu überlegtem, gegebenenfalls experimentell angelegtem, dann aber entschlossenem Handeln in der Unternehmenskommunikation. Dabei darf die Diskussion nicht auf der Ebene von Technik und Tools stattfinden. Sie muss die Transformation der Gesellschaft ins Zentrum stellen: Es geht nicht um Technik, es geht um Beziehungen zu den Anspruchsgruppen und erst nachgelagert um die Frage, ob und wenn ja welche Dialogangebote des Web 2.0 die richtigen für die Beziehungsbildung sind, ob diese vom Unternehmen neu aufgesetzt werden sollten oder ob sich die Unternehmenskommunikation bzw. das Unternehmen dorthin im Web 2.0 begibt, wo die relevanten Anspruchsgruppen heute schon sind.