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Kenntnis der Web 2.0-Phänomene hilft zwar, nützt aber nichts für Marketing und Public Relations – Serie: Soziologie und Typologien der Web 2.0-Nutzer (Teil 1 von 7)

Web 2.0-Phänomene wie Twitter und online social Networks zu kennen und diese zu verstehen, ist „in“, doch für Managemententscheidungen der Marketing-Kommunikation bzw. Public Relations allein weitgehend nutzlos. Auch künftig – und mehr denn je – ist die relevante Größe eine andere: Die Zielgruppe. Ihre Beschreibung muss um die Nutzungssoziologie von Web 2.0 bzw. online social Media erweitert werden.

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Paradigmenwechsel der Unternehmenskommunikation – Marketing, Public Relations, Web 2.0 oder Leistungsversprechen, Vertrauensbildung, Authentizität

Auf mehrfachen Wunsch stelle ich folgend meine Darstellung zum Paradigmenwechsel der Unternehmenskommunikation von Marketing, Public Relations und Web 2.0 dar, die ich seit Mitte 2008 in Vorträgen und Workshops diskutiere.
Verdichtet als Schaubild, zeigen sich die Paradigmen wie folgt:


Abb.1: Darstellung zum Paradigmenwechsel der Unternehmenskommunikation

Die Ära des Marketings: Leistungsversprechen („believe and buy“)

In der Ära des Marketings gibt es Anbieter und Käufer. Kommunikation ist eine Einbahnstrasse – vom Anbieter zum Kunden (asymmetrisch, „one way“). Das Leistungsversprechen bildet das zentrale Paradigma: Die Kunden müssen den Aussagen der Anbieter mehr oder weniger glauben („believe and buy“).

Die Methode des Marketings ist dabei im Wesentlichen durch drei Charakteristika beschreibbar:

  1. selektive Information: Allein die Vorzüge der Produkte werden dargestellt und hübsch in Szene gesetzt.
  2. Interruption (Störung): Potentielle Käufer werden bei jeder Gelegenheit gestört und Kaufbotschaften exponiert: Werbespots unterbrechen Sendungen in Radio und TV, Anzeigen unterbrechen das Lesen interessanter Beiträge und Plakate begleiten nicht nur Spaziergänge sondern verfolgen den potentiellen Käufer bis in die Pissoirs, um die Erledigung des privatesten aller Geschäfte mit Werbebotschaften zu stören. Im Internet schieben sich Banner zwischen Inhalte oder verdecken diese als „Layer“.‘
  3. Kontrolle: Der Marketer ist überzeugt, er bestimme, was die Menschen über seine Marke denken, wie sie sich fühlen und welche von ihm geweckten Bedürfnisse durch seine Marke gestillt werden. Er glaubt, das Image von Produkten und Unternehmen könne weitgehend von der Realität im Unternehmen und der Praxis des unternehmerischen Handelns gelöst werden, da abgesehen von dem engen
    Familien- und Freundeskreis der Angestellten kaum jemand etwas aus dem „Inneren“ des Unternehmens oder über mögliche Nachteile von Produkten erführe.

Nach dieser Methode arbeitet Marketing unabhängig davon wie man es nennt – ob Werbung (ahd. hwerban – durch bemühen bekommen), Reklame (frz. réclame – zurückrufen, ins-Gedächtnis-rufen), Absatzwirtschaft oder seit 1561 dann auch Marketing (vgl. ➚ Shaw, 1995: 16). Schon im Altertum verfahren Marktschreier und Herolde bei der Anpreisung von Produkten und Dienstleistungen mit selektiver Information, Interruption und Kontrolle, später, ab der Mitte des 15. Jahrhunderts Plakate und Flugblätter, ab etwa 1660 auch Anzeigen in Büchern und so weiter.

Die Ära der Public Relations: Vertrauensbildung („trust the expert/third party“)

Obwohl erste Zeitungen in Deutschland um 1600 erscheinen, entsteht der redaktionelle Journalismus, den wir heute kennen, erst nach Aufhebung der Zensur im Jahre 1848. Fortan wählen Redakteure Nachrichten aus, prüfen, ergänzen, kürzen und stellen diese nach eigenem Ermessen dar.

Redakteure agieren in der Regel nach ethischen und professionellen Grundsätzen und, in der Tradition der Aufklärung, als Anwalt des Schwächeren, der Wahrheit und der Gerechtigkeit. (vgl. Adelung, 1793; Brockhaus, 1809; ➚ Pürer, Raabe, 2002)

Der Redakteur beeinflusst die Meinung der Öffentlichkeit, die er durch sein Medium schafft. Den Marketingaussagen der Unternehmen steht also die Meinung eines Dritten, des Redakteurs, gegenüber – mit hoher Reichweite und damit mit kommunikativer Macht.

Für Unternehmen ergeben sich aus dieser Entwicklung zwei Zielsetzungen:

  1. Das Verhindern einer Verbreitung negativer Meinungen oder kritischer Kommentare zum Unternehmen/Produkt über die Massenmedien  und
  2. die Verbreitung der eigenen (Marketing)Botschaften über die Massenmedien unter Aufwertung der Glaubwürdigkeit dieser Botschaften durch die Rolle des „neutralen“ Redakteurs.

Die Verfolgung dieser Ziele wird begrifflich seit 1776 im weiteren Sinne mit Public Relations (PR, Öffentlichkeitsarbeit) bezeichnet (vgl. ➚ Kunczik, 2002: 18) und basiert auf dem Paradigma der Vertrauensbildung gegenüber den (relevanten) Redakteuren und anderen, sich in den Massenmedien exponierenden Meinungsbildnern:

  1. Vertrauensbildung: Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu den zielgruppenrelevanten Multiplikatoren – oft zunächst Journalisten, aber auch Third Parties („neutrale“, vertrauenswürdige Dritte).
  2. Interessen bedienen: Statt die Menschen zu stören (Interruption), wird im Mantel der Mehrwertinformation versucht, (Werbe)Botschaften an die relevanten Anspruchsgruppen in einer für diese interessanten, redaktionellen Form zu übermitteln.
  3. Selektive Information: Allein die Vorzüge der Produkte werden dargestellt und hübsch in Szene gesetzt.
  4. Kontrolle: PR will ein bestimmtes Image eines Unternehmens transportieren. Da sich die Meinung Dritter nicht immer vorgeben lässt, wird versucht, Definitionshoheit zu gewinnen und den Interpretationsrahmen festzulegen – meist unter Nutzung eristischer Kunstgriffe.

Hierfür richten Staat und Unternehmen eigene Büros ein: 1848 entsteht das Ministerialzeitungsbüro für staatliche Öffentlichkeitsarbeit, 1851 das Krupp’sche Pressebüro, 1894 Presseoffiziere bei der deutschen Kriegsmarine und seit 1898 „Nachrichtenbüros“ bei Bahlsen, AEG, Henkel und Siemens usw.. (vgl. ➚ Virtual University, o. J.)

Ab 1929 übernehmen erste amerikanische Werbeagenturen (u. a. Ivy Ledbetter Lee) in Deutschland das Geschäft der Verbreitung von Unternehmensinformationen. (➚ Deck, 2004)

Die Ära des Web 2.0: Authentizität („be part and trust your friends“)

Seit Mitte der 1990er Jahre beginnt mit den ersten Blogs der Siegeszug des Web 2.0, das dem gesetzlich verbrieften Recht der Meinungsfreiheit (➚GG Art. 5) nun auch nahezu jedermann die Möglichkeit der öffentlichen Meinungsäußerung eröffnet: Ohne, dass es großer (Medien)Unternehmen bedarf, ist der Nutzer des Internets nicht nur Konsument der im WWW dargebotenen Informationen, er ist zunehmend auch Produzent der Inhalte.

Damit stehen den in Deutschland etwa 0,048 Mio. professionellen Redakteuren
(➚ Weischenberg et al., 2006) etwa 44,38 Mio. potentielle deutsche Hobbyredakteure
(➚ AGOF, 2009) gegenüber, die nicht nur publizieren, sondern auch untereinander in regem Dialog stehen.

Statt des von wenigen professionellen Redakteuren betriebenen Agenda-Settings (Themensetzung), wählt nun der Einzelne seine Themen selbst, publiziert und dialogisiert sie öffentlich – ungefiltert und frei von redaktioneller Professionalität und journalistischem Ethos. Damit entsteht eine Diversifikation bzw. Fragmentierung der etablierten medialen Öffentlichkeiten.

Damit werden auch Äußerungen über „Interna“ des Unternehmens, bei dem der im Web Publizierende angestellt ist bzw. der Organisation, der er angehört prinzipiell jedem Mitglied der Online-Gemeinde zugänglich. Zu Ende gedacht wird so zum Prinzip, was Kommunikatoren seit langem beschwören: Intern ist gleich extern. In der Konsequenz bestimmt das Paradigma der Authentizität die Ära des Web 2.0:

  1. Echtheit: Die Kommunikation eines Unternehmens muss der Realität des Unternehmens bzw. die Unternehmensrealität dem kommunikativ gewollten Image entsprechen. Jede Abweichung von Leistungsversprechen und Leistungserleben wird via Web 2.0 öffentlich, verschlechtert die Reputation und senkt Umsatz und Attraktivität für Kunden und Mitarbeiter.
  2. Kollaboration: Kunden, die über das Web 2.0 vernetzt sind, wissen letztlich mehr über ein Produkt, als das Unternehmen, das das Produkt herstellt. Damit hat ein Unternehmen die Kontrolle über die Wahrnehmung seines Produktes an seine Kunden verloren. Bestenfalls hat es in einem Dialog auf Augenhöhe Anteil an der Wahrnehmungsbildung.
  3. Erlebbarkeit: In der post-anonymen Phase des Web 2.0 kann und will sich der Kunde vernetzen – bevorzugt mit echten Menschen, statt mit anonymen Marken. Mitarbeiter, CEO etc. sind also gefordert, das Unternehmen ganz persönlich erlebbar zu machen, indem sie sich selbst erleben lassen.

Paradigmen-Parallelität – nicht „entweder oder“ sondern „sowohl als auch“

Als Fazit ist unübersehbar: Die Methoden des Marketings funktionieren nicht im Paradigma der PR und im Paradigma des Web 2.0 funktionieren weder die Methoden des Marketings noch die der PR.

Doch noch gibt es eine Schonfrist. Wir sind mitten im Umbruch: Die Paradigmen existieren nebeneinander und werden noch eine Weile nebeneinander existieren. Noch funktioniert Marketing in gewissem Grade. Noch ist PR wichtig und chancenreich. Doch es ist absehbar, dass beide weiter an Bedeutung verlieren: Ist die Distanz zwischen Unternehmen und Kunden, zwischen Organisationen und ihren Stakeholdern aufgehoben, braucht es die Instrumente der Distanz-Kommunikation nicht länger. Web 2.0 lässt sich nicht aussitzen. Im Gegenteil: Wer sich dem direkten Dialog entzieht, begeht indirekte Rufschädigung am eigenen Unternehmen.

Allein, es ist nicht abschätzbar wie lange diese Koexistenz der Paradigmen in nennenswertem Maß erhalten bleibt oder ob sich ganz neue Formen entwickeln – einige Schätzungen gehen von etwa fünf Jahren aus. Wir werden sehen…

Quellenverweise:

Adelung,  Johann Christoph (1793): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Eintrag: „Die Zeitung“ Band 4, S. 1680. Nach: Digitale Bibliothek Band 4, 2004. Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand Leipzig 1793–1801. Berlin: Directmedia

AGOF (2009): Berichtsband zur internet facts 2009-III. Frankfurt: AGOF
URL: ➚ http://www.agof.de/berichtsband-if2009-iii.download.238990b2ed3c14975f6e76aa22bb2075.pdf [Stand: 29-JAN-2010]

Brockhaus, Friedrich Arnold (1809): Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch. Eintrag „Die Zeitungen“ Band 6, S. 465-466. Nach: Digitale Bibliothek Band 131, 2005. Neusatz und Faksimile. Berlin: Directmedia

Deck, Maria (2004): Struktur der PR-Agenturlandschaft in Deutschland. Hausarbeit, Universität Leipzig. München: Grin
URL: ➚ http://www.grin.com/e-book/71408/struktur-der-pr-agenturlandschaft-in-deutschland  [Stand: 14-JAN-2010]

Kunczik, Michael (2002): Public Relations. Konzepte und Theorien. 4. Auflage. Köln: Böhlau
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Virtual University (o. V.; o. J.): Public Relation.
URL:  ➚ http://www.virtualuniversity.ch/management/marketing/14.html [Stand: 14-JAN-2010]

Pürer, Heinz; Raabe, Johannes (2002): Berufsgeschichte des Journalismus. In: Neverla, Irene; Grittmann, Elke; Pater, Monika (2002): Grundlagentexte zur Journalistik. mUKV: Konstanz, S. 408-416 ➚ Bestellen bei Amazon

Shaw, Eric H. (1995): The First Dialogue on Macromarketing. Journal of Macromarketing. Spring 1995. S. 7-20
URL: ➚ http://www.luc.edu/jmm/pdfs/12shaw1995thefirstdialogue.pdf [Stand: 12-JAN-2010]

Sparling, Samuel E. (1906): Introduction to Business Orgzanization. New York: Macmillan & Co.
URL: ➚ http://www.archive.org/stream/introductiontob00spargoog#page/n384/mode/1up [Stand: 11-JAN-2010]

Weischenberg, Siegfried; Scholl, Armin; Malik, Maja (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz: UKV
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